Madeira: Auf dem Gletscherweg

Gletscher auf Madeira? Nach neueren Forschungen soll Paúl da Serra während der letzten Kaltzeit tatsächlich vereist gewesen sein, mit einem Höhepunkt vor rund 25.000 Jahren. Damals herrschte auf der Hochebene Dauerfrost. Der vorgeschlagene Wanderweg führt in eine Welt aus glazialen Trogtälern und Moränen. Zwar ist die 4,6 km lange Halbrunde offiziell mit einer Dauer von 1,5 Std. angegeben. Wir waren allerdings einschließlich des 1 km langen Rückwegs auf einer Straße und eines Abstechers zum Aussichtspunkt Bica da Cana mit Blick zur höchsten Gipfelkette Madeiras etwa 3 Std. unterwegs. Organisatorische Hinweise findest du am Ende des Beitrags.

Am Wegbeginn leuchten die kleinen Blüten von anspruchslosen Pflanzen, die mit dem mageren Boden auf der Hochebene Paúl da Serra zurechtkommen. Den extremen Temperaturwechseln zwischen Tag und Nacht trotzen sie durch polsterförmigen, niederliegenden Wuchs. Dazu zählen der pinkfarbene Reiherschnabel, das gelbe Erd-Johanniskraut als kleinste Johanniskrautart und der blassviolette Thymian.

Das flache Tal hat hier ein U-förmiges Querprofil und gilt damit als von einem Gletscher überformt. Mit von ihm mitgeführten Gesteinsbrocken hat er das zuvor von einem Bach eingeschnittene, V-förmige Kerbtal ausgeschürft und in ein Trogtal verwandelt. 

Wir überqueren den erodierten, unscheinbaren Rest eines rund eine Million Jahre alten Vulkankegels mit kleiner Gipfelsäule und klettern beim anschließenden Abstieg auf einer Leiter über einen Weidezaun. Dann gibt dieser Blick einen Vorgeschmack, was uns im nächsten Tal erwartet. Vom Gletscher transportierte und nach dem Abschmelzen zurückgelassene Gesteinsbrocken bilden eine Moränenlandschaft. Das Material stammt teilweise aus der Felswand im Hintergrund, einem seitlich durch Gletschererosion angeschnittenen alten Lavastrom.

Stechginster säumt den Weg, nett anzusehen mit seinen leuchtend gelben Blüten, auch wenn jetzt im Sommer nur noch einzelne Exemplare blühen. Dieser und der verwandte, nicht mit Stacheln ausgestattete Besenginster wurden schon von den ersten Siedlern im 15. Jahrhundert eingeführt, da sich das Feuer von Ginsterzweigen besonders gut zum Backen des traditionellen Holzofenbrots Pão de Lenha eignet. Bis heute werden die Zweige zu diesem Zweck verwendet. Beide Ginsterarten gehören also nicht zur ursprünglichen Flora Madeiras, beherrschen aber heute auf der Hochebene Paúl da Serra weithin das Bild.

Ein kurzer Abstecher würde nun zum Miradouro das Rabaças führen. Doch der Weg dorthin ist jetzt im August fast völlig mit Stechginster zugewachsen. Wir resignieren angesichts der unangenehmen Stacheln und verzichten auf den Blick, der das gesamte Tal von Ponta do Sol mit weiteren glazialen Formen  umfassen soll. Strapazierfähige lange Hosen, wie man sie in der kühleren Jahreszeit trägt, wären die bessere Wahl gewesen. 

Unten im nächsten Tal fallen uns diese vermutlich vom Gletscher glattgeschliffenen Felsen auf.

Wir beobachten eine perfekt getarnte Heuschrecke. Es ist wohl die Marokkanische Wanderheuschrecke, die auch auf Madeira recht verbreitet ist. Sie bevorzugt steppenähnliche Lebensräume, die intensiv von Vieh beweidet sind. So findet sie auf Paúl da Serra vor allem in trockenen Jahren ideale Bedingungen vor. Meistens leben die Tiere einzeln. Zu Massenvermehrungen kommt es nur selten.

Jetzt sind wir mittendrin in der Gletschermoräne. Zwischen den Felsblöcken wachsen Besen- und Stechginster sowie der auf Paúl da Serra ebenfalls allgegenwärtige Adlerfarn.

Rinderherden durchstreifen die Hochebene, wobei Zäune und in den Boden eingelassene Viehgitter die riesigen Weidegebiete voneinander trennen. Die Tiere werden ausschließlich zur Fleischerzeugung gehalten, die Kühe also nie gemolken. Mit ziemlichem Respekt, da Bullen mit von der Partie sind, umgehen wir die Herde. Einige Jungtiere, die den Weg zunächst blockieren, weichen schließlich auch aus.

Vom jenseitigen Hang schauen wir noch einmal auf die Moräne hinab. Basaltsäulen, die aus der Lavastrom-Felswand herausgebrochen sind, türmen sich gemeinsam mit eckigen Gesteinsbrocken auf.

Im angrenzenden Talzirkus Sítio das Pedras, der als Gletscherkar interpretiert wird, haben sich Viehhirten schon vor langer Zeit die lose herumliegenden Felsbrocken zunutze gemacht. Sie haben sie zu Mauern aufgeschichtet, die Schafpferche umgeben. Jahrhundertelang war es bis in die 1990er-Jahre üblich, auf Paúl da Serra Tausende von Schafen halbwild zu halten. Im Juni wurden sie regelmäßig zur Schur in die Pferche getrieben, was tagelang auch ein Anlass zum Feiern war. 

Schmetterlinge sind in dem sonnendurchfluteten Gebiet zahlreich zu beobachten. Dies hier ist ein Postillon, der an der Blüte einer Kratzdistel saugt. Mit hochgeklappten Flügeln erinnert er an einen Zitronenfalter. Bei auseinandergebreiteten Flügeln, die dieses Exemplar nicht zeigen wollte, wären aber die breiten, dunklen Randbinden an der Oberseite zu erkennen. Der in Südeuropa und auf den Atlantikinseln verbreitete Schmetterling ist in Deutschland eher selten und überwintert dort nur in warmen Gebieten wie dem Kaiserstuhl.

Im Forstpark Bica da Cana sehen wir eine extrem seltene Baumart, den Zedernwachholder, auch Madeira-Zeder genannt. Um sein festes, sogar gegen Insektenfraß gefeites Holz zu gewinnen, aus dem zum Beispiel die Holzdecke der Kathedrale in Funchal geschnitzt wurde, hat man schon vor langer Zeit fast ausgerottet. Jetzt bemüht sich die Forstverwaltung um Schutz und Wiederansiedlung der Art. Seine Beeren werden nicht als Gewürz verwendet.

Am Fuß der Bica da Cana ist auch noch zu erahnen, wie früher die Wälder in Madeiras Bergen ausgesehen haben mögen. Oberhalb der Lorbeerwaldzone, etwa ab 1300 m Höhe, wo es im Winter regelmäßig Frost gibt, wuchs ein Baumheidewald. Die Exemplare hier sind uralt, während man ansonsten auf Paúl da Serra fast nur kleinere Heidebüsche sieht. Um Flächen für die Viehhaltung freizuhalten, wurden die Heiden überall regelmäßig abgebrannt. Heute gibt es Schutzmaßnahmen, die Bestände erholen sich. Die Baumheide wächst mit der recht ähnlichen Madeira-Besenheide zusammen. Beide Arten werden mehrere Meter hoch und bilden dicke Stämme. Beide gehören wie die nordwesteuropäische Glockenheide zur Pflanzengattung Erica. Die mitteleuropäische Besenheide hingegen, das eigentliche „Heidekraut“, zählt zur Gattung Calluna.

Zwei kreisende Mäusebussarde begleiten unseren Aufstieg zur Bica da Cana. Es sind die größten an Land lebenden Greifvögel Madeiras.

Der Aussichtspunkt liegt auf einem weiteren alten Vulkankegel, der Bica da Cana. Aus 1580 m Höhe schauen wir Richtung Osten auf die Dreierkette der höchsten Gipfel Madeiras. Von links nach rechts sieht man den Pico Ruivo (1861 m), den bizarr gezackten Pico das Torres (1851 m) und den in Hochflächen eingebetteten Pico do Arieiro (1818 m). Dazwischen lugt keck der niedrigere, zuckerhutförmige Pico do Gato hervor. Diesen wunderbaren Blick verdanken wir dem stabilen Sommerwetter. Zu anderen Jahreszeiten ist mit mehr Bewölkung zu rechnen. Dann lohnt es sich, vor dem Ausflug den Wetterbericht genauer zu studieren.

Die Tour folgt dem offiziellen Rundwanderweg PR 27 mit anschließendem Abstecher zum Aussichtspunkt am Gipfel der Bica da Cana. Ausgangspunkt ist ein kleiner Parkplatz (GPS 32.757538, -17.059319) an der Regionalstraße ER 105 unweit nördlich des Forstparks und Picknickgeländes Bica da Cana. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite markiert eine Informationstafel den Einstieg in den mit Wegweisern und Farbstreifen markierten Wanderweg. Im Bogen führt er wieder zur ER 105, die er rund 1 km südlich des Parque Florestal Bica da Cana erreicht. Zurück entlang der Straße, dann beim einem Übersichtsplan quer durch den Forstpark aufwärts bis zum Miradouro da Bica da Cana. Von dort dem breiten Erdweg abwärts zum Ausgangspunkt folgen. Einen Streckenplan findest du bei Komoot.

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Wanderung nicht durchführbar. Achtung: Die ER 105 ist zwischen Boca da Encumeada und Bica da Cana oft wegen Erdrutschen im Bereich Lombo do Mouro gesperrt, die Google Maps App weiß normalerweise Bescheid. In einem solchen Fall empfiehlt sich, von Funchal kommend, die Anfahrt über Arco da Calheta/Pico da Urze.

Nächstgelegene Einkehrmöglichkeit ist die Churrascaria Pico da Urze (gute Hühnersuppe), bei Google als Cozinha a Lenha. Oder du bringst dein Picknick mit, um es auf dem Freizeitgelände Bica da Cana zu verzehren. Am Wochenende sind dort oft alle Tische belegt, an anderen Tagen ist wenig los.

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